Februar 2003
Drei Familien - jeweils Vater, Mutter, Sohn und Tochter - und die ganze Welt hatten einen großen Tag erlebt. Die Familien hatten sich als Kandidaten eines begehrten Wettbewerbes durchgesetzt, der live vom Fernsehen übertragen wurde. Sich auf dieses Spiel einzulassen, glich einem Abenteuer auf Leben und Tod. In der Höhle drohte Gefahr. Sie konnte leicht zur Hölle werden.
Der Moderator, der lausbubenhafte, schwarzhaarige Florian Formanek stellte die Akteure zum ‚Feuerwerk der Sinne‘ vor, wie die Sendung hieß. Hier ließ sich ein Vermögen gewinnen: mindestens 500.000 Euro, vielleicht ging sogar die Siegerfamilie einer vollen Million Euro nach Hause. Das Mikrofon hielt Florian so dicht vor seinen Mund, daß seine Zungenspitze ab und zu das blanke Metall schmeckte. Er stellte mit freundlichem Lächeln die Kandidaten vor:
"Das ist Familie Rumschöttel." Auch wenn diese nicht, an den Händen gefaßt, zusammengestanden hätte, wäre es für jeden leicht gewesen, sie als Verwandte zu erkennen; allen Angehörigen streichelte die Sonne ihr flammend rotes Haar und küßte ihre katzengrünen Augen. Vater Brand, Mutter Freya, Sohn Gebhard und Tochter Nore stellten sich selbst mit einer Verbeugung und einem leisen Füßescharren vor.
Golden im Lichtkegel des Scheinwerfers tauchten die blonden Haare der Familie von Oertzen ein. Der wolkenlose Himmel schien sich in ihren wasserblauen Augen widerzuspiegeln. Vater Norman stuppste mit der Nasenspitze seine Frau Leopolda an. Diese schnipste mit den Fingern zu ihren Kindern Arvid und Orsina.
Ein Vogel schien die rabenschwarzen Haare des Oberhauptes der Familie Auf der Flüh mit einem Nest zu verwechseln. Er war ihr vergöttertes Haustier. Wie gewohnt saß der farbenprächtige Papagei dort oben und putzte genüßlich sein Gefieder. Papa Gumpert kraulte seinen Liebling an der Brust. Auf Mutter Simones Schulter saß der Papageienpartner. Er zwickte ihr - wohl etwas derb - in den Rücken. Unprogrammgemäß entfuhr ihr ein "Au!" - Dann nahm sie Li und Lazzaro in die Arme, streichelte sie sacht und stellte ihre Kinder vor.
Das Publikum, das auf einer grünen, frisch geschnitten duftenden Wiese vor einem Höhleneingang saß, klatschte höflichen Beifall. Sie ließen sich warmen Kaffee und süßen, leckeren Kuchen, der auf der Zunge zerging, schmecken.
Schauten der Moderator und die Spielteilnehmer über die Zuschauer hinweg, eröffnete sich ihnen ein malerisches Panorama mit schneebedeckten Bergen.
Die Beobachter konnten ihren Blick an eine für die Kandidaten nicht ansehbare Leinwand heften, die sowohl feenhafte als auch gespenstige Eindrücke des Höhleninnenlebens in der Vorschau gewährte. Ein großer, stiller See netzte ans flache Ufer, fiel aber an einer Stelle auch ins Nirgendwo. Kleine Inseln durchsetzten das Gewässer wie ein wertvolles Collier, das der Brust einer schönen Frau aufliegt und sie schmückt. Durch die Luft huschte etwas - eine Fledermaus? Auf dem Boden krabbelte es. Niemand konnte Genaues erkennen. Unheimlich gruselig sah es aus.
Während die Zuschauer die phantastischen Bilder wie ein trockner Schwamm das Wasser aufsogen, gab Florian eindringlich die Regeln des Wettbewerbs bekannt:
"Die Höhle wird im nächsten Moment stockfinster sein. Als Notlampe bekommt jeder Wettbewerbskandidat eine kleine Grubenlampe auf die Stirn gedrückt. Wird sie angeknipst, ist der Teilnehmer disqualifiziert. Wir hier draußen können das Geschehen in der Höhle über Infrarotaufnahmen verfolgen. - Jeweils ein Familienmitglied bleibt draußen. Es muß die Gegenstände, die seine Angehörigen über das umgehängte Mikrofon beschreiben - ohne sie zu benennen - zeichnen. Der Zeichner kann keine Rückfragen stellen, sondern ist allein auf die Beschreibungen seiner Nächsten angewiesen. Die Motive dürfen sich nicht wiederholen. Wird der Gegenstand beim Namen genannt, so gilt er als nicht gefunden. - Sieger ist die Familie, die als erste jeweils drei Begriffe aus dem Wasser-, Erd- und Himmelreich in der Höhle herausgefunden hat - der hat eine Million Euro gewonnen. Oder die Familie, die nach einer dreiviertel Stunde die meisten Punkte gesammelt hat. Hier winkt ein Gewinn von 500.000 Euro. Nach 45 Minuten ist das Spiel beendet," erklärte der Moderator.
"Sind noch Fragen?" fügte er hinzu. Pro forma, denn diese Regeln waren allen bekannt.
"Keine? - Dann kann das ‚Feuerwerk der Sinne‘ starten." Die Spielgruppen gingen mit nackten Füßen, Männlein und Weiblein bekleidet mit Badeanzügen, über das kühle Gras. Wenn nackter Boden hervortrat, konnten sie auch einige Schritte über sonnenwarme, feuchte Erde laufen.
"Oh!" rief Florian. "Die Vögel bleiben draußen!" Fast hätte er es vergessen, sie abzunehmen.
Gespannt und aufgeregt ging die Gruppe in den Eingang der Höhle. Nore, das rothaarige Mädchen sprang an ihrer Mutter Freya hoch. Ihr Sohn Gebhard tänzelte hippelig neben seiner Mutter, wobei er gelegentlich ihren warmen Arm spürte. Die blonde Familie schritt ohne Mutter gemessen und einigermaßen steif ihrem Abenteuer entgegen. Familie Auf der Flüh, wo Tochter Li zurückgeblieben ist, sperrten wachsam Augen und Ohren auf. Ständig flüsterten sie sich irgendetwas aufgeregt in die Gehörorgane, daß es an den Ohrläppchen kitzelte. Das Jucken kratzten sie sich schnell wieder weg. Welche unbekannten Abenteuer würden sie hier erleben?
Der rothaarige Brand, die blonde Lente und die schwarzhaarige Li als einziges Kind stellten sich an ihr Zeichenbrett. Sie hefteten ihre Blicke mit allen guten Wünschen an die Nacken ihrer Lieben, bis diese vom dicken Dunkel des Höhleneingangs verschluckt waren.
Die Zuschauer und der Moderator schauten nun gebannt auf die Leinwand.
Die Spannung stieg. An zahllosen Fernsehapparaten in fast allen Ländern der Welt fieberte das Publikum mit den Kandidaten.
Denen schwand ein wenig der Mut - hier in der undurchdringlichen Finsternis. Florian forderte die Zuschauer auf, ihre Wimpern einen Moment fest auf die Haut unter den Augen zu drücken. Damit hatten sie eine Vorstellung, wie weit die Kandidaten gucken konnten. Diese blieben unentschlossen stehen...
Erschrocken zuckten allesamt zusammen, als sie eine männliche Stimme in dem Dunkel ansprach:
"Ich bin Ubbo. Ich kenne mich in dieser Höhle aus. Ich werde die Gruppe ‚Blond‘, der Familie von Oertzen, bis zum See führen. Stellt euch bitte hinter mir auf."
Das war leichter gesagt als getan. Vorsichtig tastend, "Papa, bist du es?", fanden sich Arvid und Orsina hinter ihrem Vater Norman ein. Mit katzenartiger Sicherheit bewegte sich Ubbo mit ihnen im Gänsemarsch mit Mäuseschrittchen zum Höhlensee.
Draußen kletterte ein Gemse hurtig über die Felsen. Die Außenkamera fing sie ein.
Anschließend stellte sich Claus der Restgruppe vor. Er führte die Gruppe ‚Rot‘, Familie rumschöttel, die sich schon ein wenig verloren vorkam. Mutter Freya, Tochter Nore und Sohn Gebhard zogen hinter ihrem Führer nicht wie bei einer Polonäse schunkelnd, sondern einigermaßen unsicher wippend mit weichen Knien hinterher. Familie Auf der Flüh, die Gruppe ‚Schwarz‘ erwartete nun, ebenfalls angesprochen und geführt zu werden. Sie wurde nicht enttäuscht. Friedmar nahm sich ihrer an.
Nachdem die drei Gruppen von ihren Führern am See verteilt worden waren, fragte der letzte Führer: "Alles in Ordnung?" "Ja!" erschallte es von drei Seiten und echote: "Ja! Ja! Ja!"
Da fiel ein Schuß. Alle Kandidaten fielen fast um vor Schreck. Sogar die sehenden Zuschauer ließen vereinzelt ein Glas oder ein Tasse mehr oder weniger klirrend zu Boden fallen. Sie fuhren zusammen. Sie sahen drei Männer, die Führer, lautlos aus dem Bild der Infrarotkamera weghuschen. Ein Mord??
"Das war nichts Schlimmes," beruhigte sie der Moderator. "Das war das Zeichen, daß unsere mutigen Kandidaten startbereit sind."
Und nun gab er das Kommando:
"Auf die Plätze! - Fertig! - - Los!!!"
Nun durften die Kandidaten anfangen zu sprechen und mit ihrem Zeichner übers Mikrofon Kontakt aufnehmen. Irgendjemand platschte ins Wasser. Es hallte. Und von allen Seiten der Höhle echote es zurück. Wer war das? Lazzaro plantschte.
"Es ist kühl und frisch. Es rinnt mir durch die Finger." Li verstand. Sie zeichnete einige Wasserwellen mit leichter Hand aufs Blatt.
Florian kommentierte: "Den ersten Punkt hat die schwarze Gruppe schon eingeheimst."
Bis dahin hatte Mutter Freya ein beklemmendes Gefühl beschlichen. "Soll ich mir das mit meinen beiden Kindern wirklich antun? Ich könnte die Grubenlampe anknipsen; dann wäre ich sofort wieder draußen. Aber jetzt schon aufgeben? Es winkt eine Menge Geld. Reichtum! Eine volle Million Euro! Sollte sie die kampflos ihren Gegnern überlassen?"
Wie vom Wind verweht zerstoben mit einem Schlag alle Zweifel. Die Schwarzen haben schon den ersten Punkt! Augenblicklich packte die Unschlüssigen die Kampfeslust. Sie mußten sich ranhalten, wollten sie gewinnen!
Nore hockte sich augenblicklich nieder und verkündete: "Es ist kalt und feucht. Ich stehe darauf und berühre es mit den Händen. Eben sind wir darüber gelaufen."
Ihre Mutter fügte augenblicklich an, daß sie noch steht und etwas Frisches wie ein m-m-m-Zug sanft ihre Haut streichelt.
Die anderen Teilnehmer ärgerten sich. Das leichteste war nun schon vergeben.
Brand konnte die Schilderungen mühelos deuten. Er kratzte auf das Blatt einen steinigen Boden und den Laufhauch stellte er... ja - wie stellt man Luft dar? Er kratzte sich die roten Haare, pustete die Backen auf. Ja! So wird er es aufs Blatt zaubern: Ein rundes Gesicht mit aufgeblasenen Backen und zarte Striche prustend.
"Rot führt mit zwei Punkten vor Schwarz mit einem Punkt," kommentierte Florian.
Das Publikum kiecherte. Das war zu einfach, um wahr zu sein! Einige Männer protestierten. Der Moderator ließ abstimmen. Die Mehrheit gönnte der Familie Rot die Punkte.
Dann horchten sie schon wieder auf. Eine Mädchenstimme aus der Höhle rief aufgeregt:
"Mama, Mama! Ich habe was Langes, Glattes zwischen den Fingern! Wie eine Schlange!" Mutter Lentes Stöhnen ging in dem allgemeinen Aufstöhnen des Publikums unter. Hatte die kleine Blonde ihr Objekt verraten?
"Mama, jetzt hat mir das Ding einen Schlag versetzt! Einen Stromschlag!" Die Mutter zuckte zusammen. "Mama, ich bin nicht verletzt," erklang es nach einigen Schrecksekunden. "Nur ein ganz klein wenig gelähmt." Die Infrarotkamera übertrug ein Bild von Orsina wie von einer Salzsäule.
"Oh weh, Orsina hat es böse erwischt," kommentierte Florian mitfühlend. "Wir hoffen, daß sie sich bald wieder bewegen kann."
Lente zitterte um ihr Kind. Sie hoffte, daß es sich bald wieder bewegen konnte. Normann sprach zu ihr: "Es lebt im Wasser. Kannst du dir vorstellen, was es ist?" Da kam Lente zur Besinnung. Sie wischte sich über die Augen, als ob sich ein Schatten darauf gelegt hätte. Dann tippte sie sich an die Stirn. Was könnte Orsina gepackt haben? Sie sank in sich zusammen und hielt ihre Nasenspitze fest. Da traf es sie wie ein Blitz! Natürlich! Ein Zitteraal! - Wie sieht der denn aus? - Sie strichelte etwas Aalähnliches mit Pünktchen an der Seite, die kleine Blitze sprühten.
Florian, der Moderator, erkannte das Bild großzügig an und der Gruppe Blond den ersten Punkt zu.
"Das Feld liegt noch dicht beisammen. Die Schwarzen führen noch immer mit einem Punkt Vorsprung," faßte er das Zwischenergebnis zusammen. Das Publikum fieberte vor Spannung.
"Iiiiiii! Ist das eklig!" Gebhards Stimme vibrierte. Vater Brand ging in Stellung an seinem Zeichenbrett. "Schleimig," beschrieb der Sohn den Gegenstand weiter. "Kriecht nur ganz langsam," fügte er hinzu.
Das konnte doch nur eine Nacktschnecke sein, die der Vater Rot flink aufs Papier zauberte. Gehört die nun ins Wasser? Oder an Land? Wo ist Gebhard jetzt? Als könnte der Gedanken lesen, schmetterte er in sein Mikrofon: Ich stehe an einer Wand. Aber nicht im Wasser!"
Und schon wieder meldete er sich: "Die Wand schmeckt. Nicht süß, sondern Punkt, Punkt, Punkt. - Das Gegenteil!" fiel ihm noch zu sagen ein.
Brand zeichnete auf den Steinboden eine Nacktschnecke und davor einen Salzstreuer.
"Die Bodenpunkte hat die rote Gruppe schon zusammen!" jubelte Florian ins Mikrofon. "Inzwischen führt diese Gruppe überlegen mit vier Punkten!" schmetterte er den Hörern ins Ohr. "Vielleicht entpuppt sich der letzte Fund als ein Goldkorn?" fügte Florian hinzu, sehr zart auf das Vermögen hinweisend, das dem Sieger winkt.
"Ich fühle etwas Warmes. Es ist Holz. Ich kann mich daran aus dem Wasser hochziehen. Es schwankt. Aber kippt nicht um. - Ich sitze jetzt darin. Ich fühle etwas Kühles, Metallenes. Es ist ein Griff. Ich taste weiter. Ich habe das Pendant gefunden..." Wer spricht? Die Zuschauer kneistern ihre Augen zusammen. Schwer zu erkennen.
Florian löst das Rätsel. Norman erzählt. "Ich bewege mich damit über den See."
Eifrig zeichnete Lente mit kühnen Strichen einen Kahn mit einem Ruder.
"Die nächste Gruppe hat auf einem Gebiet die volle Punktzahl," gibt Florian bekannt. "Blond liegt damit nur einen Punkt hinter Rot zurück. Abgeschlagen ist Schwarz, die bisher nur einen einzigen Punkt sichern konnten."
Der Familie Auf der Flüh sank das Herz in die Hose. Die Zuschauer klatschten rhythmisch. Zum Mut einflößen. Florian unterstützte das Anfeuern:
"Es ist noch alles offen. Es sind erst einundzwanzig Minuten vergangen. Also noch nicht ganz Halbzeit. Da ist noch alles offen."
"Wie geht es eigentlich Orsina?" fragte sich Mutter Lente besorgt. "Hat sie sich von ihrer Lähmung erholt?" dachte sie bange, sich beide Arme mit den überkreuzten Händen sanft streichelnd.
Da hörte sie schon ihre wohlbekannte Stimme: "Papa!" rief sie ganz leise.
Vater Norman holte gerade mit den Rudern aus, um tatkräftig vorwärts zu kommen. Kaum hatte er diese in das Wasser eingetaucht, erschreckte ihn ein markerschütterndes "AUA!!!" Und dann wimmerte es weiter: "AU! Au! AU!" Nein, das konnte nicht wahr sein! Es war Orsinas Stimme, die alle Menschen innerhalb und außerhalb der Höhle zusammenfahren ließ. Norman erstarrte und hielt das Ruder hoch, mit dem er soeben - unbeabsichtigt - seiner Tochter auf den Kopf geschlagen hatte. Mit beiden Armen umschlang sie ihn. Ein herzzerreißendes Schluchzen schloß sich nun an.
Einige Zuschauer tupften sich mit einem Taschentuch - möglichst verstohlen - die rollenden Tränen von den Backen. Ein paar Halbwüchsige lachten sich schier kaputt und klatschten sich vor Vergnügen die flachen Hände auf die Oberschenkel.
Der Vater tastete sich in der pechschwarzen Finsternis vor, um seine Tochter an Bord zu ziehen und tröstend in die Arme zu nehmen. Der wacklige Kahn drohte umzuschlagen. Beruhigend drang Papas Stimme in ihren Kopf. "Was sagt er? - Ich soll mich still verhalten und Laut geben?" wurde Orsina bewußt. "Hier bin ich," wisperte sie matt. Das Publikum lauschte gebannt. Mucksmäuschenstill war es draußen. Nur die Bäume rauschten laut.
Norman gelang es, unter größter Anstrengung seine Tochter an in den Kahn zu legen, als es kratzte und schabte, krachte und ruckelte. Den Zuschauern blieben die Münder offen stehen. Vor Aufregung glühten rot ihre Gesichter als würde die Sonne untergehen. Was war passiert?
Norman löste das Rätsel: "Ich bin auf Grund gelaufen," beruhigte er sich und damit alle anderen. "Ich steige jetzt aus dem Kahn aus und gehe an Land." Sofort schlug sich Norman die Hand vor den Mund. Zu spät! Die Zuschauer stöhnten aus vollem Herzen. Das war ärgerlich! Den Zuhörern sträubten sich die Haare. Mutter Lente standen sie zu Berge. Der mühsam erarbeitete Punkt war vernichtet. "Die Familie der Pechvögel," dachte sie traurig und malte ein dickes Kreuz über den Kahn.
Florian meldete sich zu Wort: "So leid es mir tut, wir müssen Familie Blond einen Punkt abziehen. Das Wort ‚Kahn‘ hätte nicht fallen dürfen."
Vater Norman schlug sich an den Kopf. Verdammt und zugenäht! Sollte denn hier alles schief laufen?
"Zum Kotzen hier!" Am liebsten würde Norman alles hinschmeißen. Er war kurz davor, verrückt zu werden. In dieser elenden Dunkelheit. Er schlug krachend mit der Faust aufs Wasser. Doch dann tröstete er sich und Orsina mit einer Geschichte: "In dieser pechschwarzen Nacht, so schwarz wie Stiefelwichse, in der gottverdammten Finsternis, die einem Weltuntergang gleicht - hier sehe ich es deutlich glitzern und glänzen. Gold und Silber bringen herrliche Diamanten zum Funkeln und lassen einzigartige Rubine aufleuchten. Dieser unermeßliche Reichtum schmückt einen prächtigen Bau, in dem der Kaiser zuhause ist."
Seine Frau begriff, daß sie das zeichnen könnte und legte ein Luftschloß erster Güte aufs Papier.
Tosender Beifall. Der bewirkte, daß Florian einen Luft-Punkt an Blond vergab. Niemand beachtete das Murmeltier, das in der Nähe pfiff. Die Anzeigentafel zeigte nun je einen Luft-Punkt für Rot und Blond, wegen Punktabzugs nur zwei Wasser-Punkte für Blond und einen für Schwarz sowie drei Erdpunkte für Rot.
Derweil ist Norman weitergekrochen, um vielleicht noch einen Erdpunkt zu ergattern.
Gumperts tiefe Stimme ertönte. In tiefem Baß erzählte er, daß er etwas strahlend Weißes fühlte mit einem weiten weißen Mantel, den es zum Schutz über jemanden ausbreitet. Dieses feenartige Wesen mit den langen, goldenen Locken hat Flügel. Tochter Li zeichnete eifrig einen Engel, als ein gellender Schrei ihre Hand den letzten Strich quer über das ganze Blatt reißen ließ.
"Du Drecksack!" kreischte Orsina, die dem Engel glich. "Papa, dieser Kerl hat mich angefaßt!" Daß sie nicht log, konnte das Publikum mitverfolgen. Jemand hatte sich in das Boot gebeugt. Florian erkannte den Schwarzen den Punkt sofort wieder ab, den er gerade verteilt hat. Ein schreiender Adler kreiste wachsamen Blicks über den Bergen.
Norman stürzte sofort in Richtung der Stimme. Der rauhe und spitze Fels piekste und stach ihn, er schlug der Länge nach hin auf dem rutschigen Stein, er schlug sich die Knie auf, er scherte sich nicht darum, sondern das beflügelte ihn eher, und er krabbelte auf allen Vieren wie ein wütender Hund weiter. "Wage das nicht, du Aasgeier!" vergaß er sich. "Ich bringe dich um!" drohte er. Die Zuschauer hielten den Atem an. Sie verfolgten ihn gebannt, die Augen fest an ihn geheftet.
Platsch! fiel er ins Wasser. Endlich war Norman bei seiner Tochter, wollte den Widersacher an der Nase packen, streckte die Hand nach ihm aus und faßte an - eine Brust. Augenblicklich zog er seine Hand zurück, als ob er etwas nicht Faßbares angefaßt hätte.
"Das fühlt sich an wie ein Affe," blökte er. "Wie ein weiches Fell." Er hatte eine dicht behaarte Brust gefühlt. Und aus der grollte drohend eine beißende Stimme: "Wenn du keine Ruhe gibst und lieber eine Schlägerei haben willst, bist du sofort draußen."
Norman konnte den Mann nicht sehen, aber er fühlte, daß er einen Berber vor sich stehen hatte und nicht Gumpert. Der hatte hinter dem Rücken des Unbekannten schnell seine Grubenlampe angeknippst. Augenblicklich traf ihn ein Bannstrahl mitten ins Gesicht. Dieser führte ihn nach draußen, ohne die Umgebung zu erleuchten. Im Freien angekommen, buhten ihn das Publikum mit schrecklich schneidenden Pfiffen aus.
Lente behielt einen kühlen Kopf. Sie ergriff die Chance und skizzierte einen Riesen-Mann auf ihr Papier. Stürmischen Applaus erntete sie dafür; das Publikum entschied zu ihren Gunsten. Damit hatte sie den ersten Erd-Punkt erworben.
Norman sah seine Chance gekommen und duckte sich blitzartig. "Ich taste mich an dicht bepelzten Stampfern entlang nach unten," erzählte er. "Diese münden in Ha-m-ta-ta, die im Wasser stehen. Ich habe davon auch zwei. Und alle Zweibeiner, die hier laufen.- Und in der Luft hält dieses Etwas noch etwas Fünffingriges."
Lente entwarf rasch zwei Füße auf ihrem Blatt und stellte sie unter Wasser. Das verschaffte ihr wirklich und wahrhaftig einen Wasserpunkt! Nun hatte ihre Familie wieder drei voll! Und schnell skizzierte sie noch winkende Hände. Noch einen Punkt.
Drei Punkte dazugewonnen! Riesige Freude. Ihre Fangemeinde tobte.
Die Spielzeit war fast abgelaufen. "Zehn - neun - acht - sieben...," zählte das Publikum. In der Höhle zog eine leichte Dämmerung herauf wie ein Silberstrahl am Horizont, als ob sich der frische Morgen ankündigt. Der Aufseher, der wirklich einem Gorilla glich, kletterte am Ende der Höhle ein Stück hinunter.
"sechs -fünf - vier..."
"Das sieht schon aus wie Sieg!" dachte Norman und sprang vor Freude in die Höhe. Wieder zerriß ein schmerzerfüllter Schrei die Höhle. Dann rummste und polterte es. Kerzengerade saßen die Zuschauer und versuchten, das Schreckliche zu begreifen.
"Ich sehe Sterne!" Das war nicht Normans Stimme. Wer hat das gerufen? Lazzaro, erläuterte Florian. Da der Begriff genannt wurde, konnte er Schwarz keinen Punkt spendieren.
Dieser Ausruf löste aber die Spannung im Publikum.
"Ein Unglück ist geschehen," raunte es durch die Zuschauerreihen. Ein Unglück? "Ja! Norman ist abgestürzt!"...
Banges Warten. Das Publikum vergaß weiterzuzählen.
Der Aufseher sprach Norman an. Der antwortete nicht. Der Berber untersuchte den leblos liegenden Mann, dann hob er ihn auf wie eine Feder, lud ihn über die Schulter und trug ihn durch die langsam heller werdende Höhle. Ist Norman tot? "Er ist tot," raunte es von einem zum anderen. "Er ist nicht tot," gab der Gorilla bekannt. "Er ist ohnmächtig. - Vielleicht hat er sich einen Fuß gebrochen."
Die Menge seufzte erleichtert. Der Moderator machte einen Scherz und lobte die Mutigen, die keiner Gefahr aus dem Weg gingen, sondern sie sogar noch kitzelten.
Die blonde Familie umringte den Vater auf des Berbers Schulter. Sie hatte keinen Blick für die schmucke Höhle. Und achteten auch nicht auf die dunkle Sonnenbrille, die dem Mann in der nicht zu hellen Höhle auf der Nase drückte. Die Führer Claus, Ubbo und Friedmar traten zu den Gruppen. Auch sie trugen Sonnenbrillen. Sie und noch zwei unbekannte Hünen führten die Wettbewerber nach draußen. Sie fanden sicher ihren Weg, den sie an der Bodenstruktur erfühlen konnten.
Die gleißende Sonne blendete die Augen, die alle reflexartig zusammenkniffen. Sie wurden mit tosendem Beifall begrüßt. Die Leute trampelten mit den Füßen. Das Geräusch schluckte allerdings der Rasen. Eine Kapelle spielte einen Tusch.
Wer war eigentlich der Sieger?
Der Moderator Florian dankte den vier blinden Höhlen-Aufsehern. Das Publikum rief enthusiastisch "Bravo!", als würde es von einem Stardirigenten eine Zugabe verlangen.
Den Mitspielern dankte Florian für ihr tapferes Durchhalten. Eine Superleistung!!!
"So. Und nun wollen wir den Gewinner ermitteln," versprach er. Er ging zu den Zeichnern und bewunderte deren Kunstwerke.
"Li, du hast ganz wunderbares Wasser gezaubert," sprach er. "Und einen durchgstrichenen Engel." Mehr konnte er auf dem Blatt der schwarzhaarigen Familie Auf der Flüh nicht sehen. Währenddessen hantierte ein anderer Künstler an einer weißen Wand mit Pinsel und Farbe.
Florian wendete sich Brand zu, dem Oberhaupt der rothaarigen Familie Rumschöttel. Was sah er hier? Den blasenden Wind, den Steinboden, die schleimige Nacktschnecke und das Salz.
Das Bild der blonden Familie von Oertzen umfaßte ein prunkvolles Luftschloß, winkende Hände, ein durchkreuztes Boot, zwei Ruder, zwei riesige Füße, einen langen Zitteraal und einen Riesen.
"Dieses Ergebnis kann sich sehen lassen," äußerte er zufrieden. "Bevor wir nun die Punktverteilung anschauen, werden wir unsere Augen auf dem Gemeinschaftsbild ruhen lassen." Florian lenkte den Blick auf das bewegte, farbenfrohe Gemälde des Malers, der die einzelnen Elemente zu einer Geschichte zusammengefaßt hatte:
"Ein Riese läuft auf einem Steinboden. Unter einer Achsel klemmte er eine wundervolle Nacktschnecke, unter die andere ein Fäßchen Salz. Damit ging er zum Wasser. Er rief nach seinem Boot, mit dem er zur Insel übersetzen wollte. Da tauchte der Zitteraal auf und sendete ihm mit Blitzen die Nachricht, daß sein Boot untergegangen ist. Es sind nur noch die beiden Ruder vorhanden. Er tröstete den Riesen aber auch sofort, daß dieser vielleicht seine Füße benutzen könnte, die im Wasser wie ein vergessenes Paar Schuhe stehen. Der Riese dankte dem Zitteraal für seinen freundlichen Worte und stieg in seine Füße. Seine Hände fehlten ihm auch, merkte er. Deshalb rief er den Engel, ihm diese zu bringen. Er sah sie hoch oben in der Luft winken. Der Engel antwortete ihm: ‚Ich würde dir gern helfen, aber ich bin ausgelöscht.‘ ‚Was soll ich jetzt tun?‘ fragte der Riese, der sehnsüchtig seine Hände mit Blicken durchbohrte. ‚Frage doch den Wind, ob er sie dir herbeipustet,‘ schlug der Engel vor. Der Riese rief den Wind und fragte ihn gewinnend, ob er ihm seine Hände herbeipusten konnte. Der Wind antwortete ihm mit der gleichen Freundlichkeit. Glücklich streifte sich der Riese seine Hände an und winkte damit sogleich nach dem prunkvollen Luftschloß. In dieses stellte er die Nacktschnecke und das Salz. Glücklich und zufrieden zog er damit nach Hause."
Die Zuhörer lachten und klatschen tosenden Beifall. Langsam begannen sie, unruhig auf den Stühlen und der Wiese hin und her zu rutschen. Wer war denn nun der Gewinner?
Florian ging zur Punktetafel, gefolgt von den Wettkampfteilnehmern. Auch Norman war wieder zu Bewußtsein gekommen. Wie es seinem Fuß geht? Er biß die Zähne zusammen und antwortete tapfer: "Ganz gut." Und seiner bildschönen Tochter? Orsina konnte schon wieder lächeln.
Das Publikum feierte die beiden als Helden.
"Was sagt die Anzeigentafel?" fragte Florian. "Niemand hat in allen drei Bereichen drei Punkte kassiert. Das wäre die Voraussetzung gewesen, die eine Million Euro zu erhalten. Eine Millionärsfamilie mehr gibt es also nicht ab heute. Aber 500.000 Euro sind ja auch nicht zu verachten. Und es wurde hart erkämpft. - Familie Auf der Flüh gratuliere ich zu ihrem dritten Platz." Die Schwarzhaarigen traten hervor und Florian schüttelte jedem einzelnen die Hand, Vater Gumpert, der von Orsina und Norman mit giftigsten Blicken verfolgt wurde, Mutter Simone, Sohn Lazzaro und Tochter Li.
Der Beifall klang nur dürr.
"Zweiter ist..." Florian schaute nachdenklich auf die Tafel. "Zweiter ist mit vier Punkten Familie Rumschöttel. Sie waren großartig!" Und damit schüttelte er dem rothaarigen Vater Brand und Sohn Gebhard sowie der Mutter Freya und Tochter Nore die Hand.
"Sieger mit einem Punkt Vorsprung ist Familie von Oertzen!" Ein ohrenbetäubender Lärm setzte ein. Mit Hupen und Schreien und Johlen und Kreischen. Die Menschen konnten sich gar nicht beruhigen. Die Familien klatschten mit. Florian gratulierte Vater Norman, dem er den Scheck überreichte, Mutter Lente, dem Sohn Arvid und der gebeutelten, bildschönen Tochter Orsina. Alle strahlten überglücklich und küßten ihr zukünftiges Vermögen.
Alle Teilnehmer und Zuschauer hoben ihre Arme und faßten sich an. Sie schunkelten und schaukelten im Sitzen und stehen. Dazu sangen sie: "Hoch soll’n sie leben..."
Das Feuerwerk der Sinne war in ein unsagbares, glückstriefendes Freudenfest, einem Gipfel der Festlichkeit übergegangen. Die Berge strahlten glutrot in der untergehenden Sonne. Die Kulisse der wundervollen Natur unterstrich den besonderen Reiz dieser einmalig-spannenden, weltweit verfolgten Show.
Angelika Paul
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